Montag, 13. April 2020

Rainer Maria Rilke: Der Blinde

Der Blinde

Sieh, er geht und unterbricht die Stadt,
die nicht ist auf seiner dunkeln Stelle,
wie ein dunkler Sprung durch eine helle
Tasse geht. Und wie auf einem Blatt

ist auf ihm der Widerschein der Dinge
aufgemalt; er nimmt ihn nicht hinein.
Nur sein Fühlen rührt sich, so als finge
es die Welt in kleinen Wellen ein:

eine Stille, einen Widerstand - ,
und dann scheint er wartend wen zu wählen:
hingegeben hebt er seine Hand,
festlich fast, wie um sich zu vermählen.

Rainer Maria Rilke, Gesammelte Werke : Der Blinde

Sonntag, 12. April 2020

Homo sacer und die zwei Körper des Königs.

Die aktuelle Situation scheint doch einige Parallelen zu dem Bild des Königs mit den zwei Körpern und der Vermischung dieses Königs mit homo sacer und dem nackten Leben nach Giorgio Agamben aufzuweisen. Nicht ohne Grund übernimmt sicher die Partei mit dem C im Namen derzeit die  Federführung und hat bereits einen König ausgewählt.

aus Homo sacer, Die souveräne Macht und das nackte Leben, 5. Souveräner und heiliger Körper

5.1. Als Ernst Kantorowitz Ende der fünfziger Jahre in den Vereinigten Staaten "Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters" veröffentlichte, wurde das Buch nicht nur von Mediävisten, sondern auch und vor allem von Historikern der Neuzeit sowie Politikwissenschaftlern und Staatstheoretikern vorbehaltlos begrüßt. Es war in seiner Gattung zweifellos ein Meisterwerk, und die Vorstellung eines "mystischen Körpers" und "eines politischen Körpers des König", die es ans Licht brachte, bildete gewiß ( ... ) eine "wichtige Etappe in der Entwicklungsgeschichte des modernen Staates" (Giesey 1, S.9); doch solch eine ungeteilte Gunst auf einem so heiklen Gebiet verdient einige Überlegungen. 
Kantorowitz weist im Vorwort selbst darauf hin, daß das Buch, das aus einer Studie über mittelalterliche Vorläufer des Rechtssatzes von den zwei Körpern des Königs hervorgegangen war, weit über die ursprüngliche Praxis hinausging. ... Das Vorwort mache darauf aufmerksam und bestreitet zugleich vielsagend, daß es zu weit (ginge), wollte man annehmen, der Verfasser habe sich der Erforschung der Ursprünge einiger Idole moderner politischer Religionen nur aufgrund der furchtbaren Erlebnisse unserer Zeit zugewandt, in der ganze Völker, die größten wie die kleinsten, den unsinnigsten Dogmen zum Opfer fielen und politische Theologismen zu regelrechten Besessenheiten" wurden. Und mir derselben beredten Bescheidenheit weist der Verfasser den Anspruch zurück, "das Problem des sogenannten "Mythos des Staates" (Cassirer) vollständig erfasst zu haben.

5.2. Mit der Entschiedenheit dieser Schlussthese (eingf.: Und in diesem Sinne kann man sagen, daß "ungeachtet einiger Ähnlichkeit mit zusammenhanglosen heidnischen Begriffen (...) "die zwei Körper des Königs" ein Produkt christlichen theologischen Denkens (sind) und (...) folglich einen Markstein christlicher politischer Theologie (bilden)", ebd. S.496).) hebt Kantorowitz das Element hervor (um es gleich wieder beiseite zu schieben), das die Genealogie der Lehre von den zwei Körpern in eine weniger beunruhigende Richtung gelenkt hätte, wenn er es nämlich mit dem zweiten und obskureren Arkanum der souveränen Macht in Verbindung gebracht hätte: la puiisance absolue (die Macht ist absolut, der König stirbt nie) ... Als möglichen Ursprung (eig. Anm: der eigentümlichen Bestattungszeremonien französischer Könige) nennt Kantorwitz die römische Kaiserapotheose, auch hier wurde, nachdem der Souverän gestorben war, seine "imago" aus Wachs "wie ein kranker Mensch behandelt und lag auf einem Bett, Senatoren und Krankenpflegerinnen standen zu beiden Seiten, Ärzte markierten Pulsfühlen und mediznische Behandlung, bis nach sieben Tagen die Figur "starb" ... der makabre und groteske Ritus, bei dem ein Abbild zuerst wie eine lebende Person behandelt, und danach feierlich verbrannt wurde, weist in eine dunkle ungewissere Zone, die wir nun zu erkunden versuchen. Dort nämlich schien der politische Körper des Königs sich dem tötbaren und nicht opferbaren Körper des "homo sacer" anzunähern, um beinahe mit ihm zu zerschmelzen. 

Ähnlich Groteskes sehen wir heute, das Verschmelzen des nackten Lebens zum unsterblichen König mit zwei Körpern, um gleich nach der mystischen Aufwertung durch den "Schutz im Porzellanschrank", den  Umgang mit demselben  Körper, "der in  Massengräbern verscharrt und in  LKW-Fuhren abgefahren wird" die Verschmelzung des nackten Lebens mit dem König zu zeigen. An den Beisetzungen und Transpormitteln wird der Umgang mit dem nackten Leben wieder offenbar.

Heute haben wir es mit einer Verdoppelung des Bizarren zu tun, der Groteske mit den zwei Körpern des homo sacer und des nackten Lebens in den Medien und der Ernennung eines "echten" Königs mit zwei Körpern in den Ländern, dem durch das Spiel mit Unsicherheit und Unwissen uneingeschränkte ewige Macht zugesprochen wird.








 











Dienstag, 7. April 2020

Coronatagebuch

Auf dem Spaziergang heute keine Sittenpolizei, die Wege zu eng für ihre Autos. Patrouillen wirkten wenig glaubhaft, der unsichtbare Feind lauerte doch überall.

Kürzlich zog ein Mann seine Maske vom Gesicht, fragte mich nach der Uhrzeit. Die Sittenpolizei, die ein paar Meter weiter in ihrem Auto auf Verstöße wartete, stieg drohend aus. Ein strenger Blick aus meinen Augenwinkeln verjagte sie. Der Polizeistaat irritiert sie noch.

Beim Griechen hinter rot-weißem Absperrband, das nun unsere Straßen, Lokale und Wälder ziert, überbackene Spieße bestellt. Spaziergang, bezahlt, fortgetragen, Sicherheitsabstand eingehalten, aus Plastikgeschirr gegessen; Restaurant 2.0

Samstag, 4. April 2020

Coronatagebuch

Während letztes Wochenende Spaziergänger und Radfahrer die nahen Ausflugsziele noch genossen, sich über die Sonne und das Erwachen der Natur freuten, war die Stimmung heute gedrückt, depressiv, nur wenige lächelten oder sprachen miteinander, vielmehr wirkten die Menschen wie Gefangene bei ihrem Hofgang.

Für gewöhnlich habe ich bereits nach kurzer Zeit des Laufens oder Radfahrens den Stadtwald, den Rhein oder die Felder nahezu für mich allein, doch in den Zeiten der Ausgangsbeschneidung ist es schwer, ruhige Gebiete zu finden.

Die Kirschblüte bricht bereits aus, kein Mensch bemerkte sie, selbst in mir konnte sie heute nicht die übliche Verzückung auslösen, schien sie in ihrer Form doch wie steckengeblieben. Nächste Woche wird die Blüte ihre volle Pracht entfalten und die Plantagen in Weiß tauchen. Heute blieb der Fotoapparat auf dem Gepäckträger.

Im Haus ist es still, kein Frühstück, kein Gespräch tönt von den Balkonen, selbst die Kinder über mir, die sonst am Wochenende gerne einmal durch die Wohnung toben, sind nicht zu hören.

Corona II

Es wurde mir von vielen Seiten zugetragen, dass die Regierung uns bis zum Sommer vom Leben, von Kontakten fernhalten will. Nach wie vor gibt es keinen Grund, die Intensivbetten sind leer, werden bereits mit Schwerkranken aus Italien und Frankreich belegt. Der Mittelstand dürfte bis Sommer erfolgreich zerschlagen sein.

Niemand macht sich Gedanken darüber, was es für Alte und Schwerkranke bedeutet, diesen Stress der Isolation und Einsamkeit in den letzten Zügen des Lebens ertragen zu müssen. Es bleibt zu befürchten, dass mehr Menschen an der Isolation sterben müssen, als an Corona. Arztpraxen haben geschlossen, weil sie kein Desinfektionsmittel oder keine Schutzkleidung mehr kaufen können. Alte und Kranke trauen sich nicht mehr in die Wartezimmer und Krankenhäuser. Den Alten, Kranken und Armen werden die preiswerten Lebensmittel und das Klopapier vor der Nase weggekauft. Diejenigen, die einem seit Jahren in den Ohren liegen, dass sie sich wünschen, dass Eltern und Großeltern nicht mehr so lange leiden müssen und bald erlöst werden, meinen heute, sie besonders schützen zu müssen. Die meisten leugnen, dass Isolation sowohl zu psychischen als auch zu körperlichen Krankheiten führt. Statt an oder mit Corona werden viele an Einsamkeit sterben in dieser Grippewelle. Alten und Kranken, weil sie sowieso nicht mehr so lange zu leben gehabt hätten, wird so die Lebenszeit verkürzt, andere werden sich das Leben nehmen, chronische Krankheiten werden sich verschärfen durch den künstlich erzeugten Stress, die Angst zum Arzt zu gehen oder durch den künstlich erzeugten Mangel an Medikamenten und Hilfsangeboten. Viele sterben an den Folgen der Hysterie, weil Desinfektionsmittel, Schutzkleidung und Beatmungsgeräte fehlen. Die Versorgung von psychisch kranken Menschen und anderen schutzbedüftigen Personen ist zu großen Teilen nicht mehr gewährleistet. Gewalt, sexueller Missbrauch, Vergewaltigung und Totschlagsdelikte in den Familien werden zunehmen, da Täter und Opfer wenig Möglichkeiten haben, sich aus dem Weg zu gehen. Wenigstens wurden hier mehr Betten von den Frauenhäusern organisiert und Notfallnummern auch für potentielle Täter eingerichtet, um wenigstens einem kleinen Teil helfen zu können.

Die Welt steht Kopf und keiner weiß warum, die Infektionsrate ist unbekannt, da keine Dunkelzifferstudie gemacht wird, die Sterblichkeit scheint gering, wesentlich geringer als bei den üblichen Grippewellen. Ein wenig Hoffnung habe ich inzwischen, dass sie uns nicht ohne Grund bis Sommer isolieren, da inzwischen aufgrund der Kritik vieler, in der Öffentlichkeit auch andere Ärzte zu Wort kommen dürfen, als die zwei, die gerade die Politik bestimmen. Ärzte unterschiedlicher Profession, darunter auch internationale Größen, wurden nicht müde, die Bevölkerung auf anderen Kanälen aufzuklären und ein realistisches Bild von Covid19 zu zeichnen, dafür bin ich sehr dankbar, auch wenn sie zum Teil nach wie vor auch von diesen Kanälen zensiert werden, die Videos zum Teil gelöscht werden, haben sie nicht aufgegeben, uns zu informieren. Einen großen Dank dafür, denn inzwischen kommt auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen nicht mehr drumherum, auch andere Wissenschaftler zu Wort kommen zu lassen. Es ist nun zu hoffen, dass nicht mehr nur eine These zu dem Virus zugelassen wird, sondern wie in der Wissenschaft üblich, alle Thesen gemeinsam diskutiert werden, um zu vernünftigen Forschungsansätzen und Lösungen zu gelangen.

Es ist an anderen Ländern offensichtlich, dass es viele Lösungen gibt, das Virus unter Kontrolle zu halten als ein Land in eine Depression zu stürzen und Zustände wie nach dem Krieg zu schaffen sowie körperliche und seelische Schäden in der Bevölkerung zu hinterlassen.

Freitag, 3. April 2020

Coronatagebuch

Ich laufe durch die Stadt, menschenleer, einige wenige, wirken wie vor dem Tod, werden hysterisch, wenn der Bürgersteig zu eng ist, um 2 Meter Abstand zu halten. Der Rest in Endzeitstimmung – alle kurz vor dem Tod, so scheint es. Hineingeworfen in eine Welt von Orwells „1984“ oder Huxleys „Schöne neue Welt“, nur niederträchtiger.

Im Gespräch wirken die Menschen verwirrt, nicht mehr bei Verstand, sie haben nicht mehr alle Sinne beisammen, bemerken es aber noch, entschuldigen sich dafür.

Heute Nacht hatte ich einen Traum, es war alles nur ein Traum, der Wunsch nach Totalüberwachung und Menschenversuchen, das Einschränken der Grundrechte, es war nicht mehr da, ich hatte alles nur geträumt, ein Alptraum, aus dem ich nur aufzuwachen brauchte. Doch zwei Minuten später begriff ich, es war kein Traum, 1984 war in Planung, war Realität geworden, nur wesentlich bestialischer.

Big Brother is watching you. Ich muss beide Bücher noch einmal lesen, ist lange her, Schulzeit. Ja, da schien die Demokratie noch intakt.

Zum Glück stamme ich aus einem Elternhaus und aus einer Schule, die mir das Denken beigebracht haben, nicht das Runterbeten von Vorgebetetem.  Den Kampf um die Demokratie werde ich nicht gewinnen können, dazu hat Angst und Manipulation durch Bilder zu viel Macht, aber ich würde es mir nicht verzeihen, es nicht wenigstens zu versuchen, das bin ich meinen Eltern und auch meinen Lehrern schuldig.

Meine Eltern, meine Freunde, die ich nicht sehen kann, weil sie sich vor Angst in der Wohnung verschanzen. Menschen, die vor einem halben Jahr noch für die Erhaltung der Demokratie kämpften, kämpfen jetzt für Überwachung, Totalitarismus und Menschenversuche. So etwas hätte ich mir in meinen kühnsten Alpträumen nicht vorstellen können, in meinen verrücktesten Geschichten nicht, aber ich war auch nie eine Sciencefictionautorin.

Was Angst aus Menschen machen kann ... wir haben genug Beispiele in Vergangenheit und Gegenwart, aber das Kollektivwissen, das Schwarmwissen, die Intelligenz, die Masse scheint keinen Zugriff mehr darauf zu haben, wie fortgeblasen bei den meisten. Der verordnete körperliche Abstand, die Isolation führen offenbar auch zur Abschottung von Geschichte, Vergangenheit, jüngster Vergangenheit, eigenen Überzeugungen, Wissen und Denken.

Mittwoch, 1. April 2020

Der Befehl

Befehl ist Befehl: der Charakter des Endgültigen und des Indiskutablen, der dem Befehl anhaftet mag auch bewirkt haben, daß man über ihn so wenig nachgedacht hat. Man nimmt ihn hin, als etwas, das immer so da war, er erscheint so natürlich wie unentbehrlich. Von klein auf ist man an Befehle gewöhnt, aus ihnen besteht zum guten Teil, was man Erziehung nennt. Auch das ganze erwachsene Leben ist von ihnen durchsetzt, ob es nun um die Sphären der Arbeit, des Kampfes oder des Glaubens geht. Man hat sich kaum gefragt, was denn ein Befehl eigentlich ist; ob er wirklich so einfach ist, wie er erscheint; ob er der Raschheit und Glätte zum Trotz, mit der er das Erwartete bewirkt, nicht andere, tiefere, vielleicht sogar feindliche Spuren im Menschen zurückläßt, der ihm gehorcht.
Der Befehl ist älter als die Sprache, sonst könnten ihn Hunde nicht verstehen. Das Dressieren von Tieren beruht eben darauf, daß sie, ohne eine Sprache zu kennen, begreifen lernen, was man von ihnen will. In kurzen, sehr deutlichen Befehlen, die sich prinzipiell von denen am Menschen unterscheiden, wird ihnen der Wille des Dompteurs kundgegeben. Sie befolgen ihn, wie sie sich auch an Verbote halten. Man hat also alles Recht, nach sehr alten Wurzeln für den Befehl zu suchen; zumindest ist es klar, daß es ihn in irgendwelcher Form auch außerhalb der menschlichen Gesellschaft gibt. (Elias Canetti, Masse und Flucht, S. 357)

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