Zitat: Die Sache ist die, daß ein und dieselbe Einforderung des nackten
Lebens in den bürgerlichen Demokratien zu einem Vorrang des Privaten
gegenüber dem Öffentlichen und der individuellen Freiheiten gegenüber
den kollektiven Pflichten führt, in den totalitären Staaten dagegen zum
entscheidenden politischen Kriterium und zum Ort souveräner
Entscheidungen schlechthin wird. Und nur weil das biologische Leben mit
seinen Bedürfnissen überall zum "politisch" entscheidendem Faktum
geworden ist, besteht überhaupt die Möglichkeit, die sonst unerklärliche
Geschwindigkeit zu begreifen, mit der in unserem Jahrhundert die
parlamentarischen Demokratien in totalitäre Staaten haben umstürzen und
die totalitären Staaten sich beinah ohne Übergangslösung in
parlamentarische Demokratien haben umwandeln können. In beiden Fällen
vollzogen sich die Umbrüche in einem Umfeld, wo die Politik sich schon
seit längerem in Biopolitik verwandelt hatte und wo der Einsatz nunmehr
bloß darin bestand, zu bestimmen, welche Organisationsform sich für die
Pflege, die Kontrolle und den Genuß des nackten Lebens am wirksamsten
erweisen würde. Wenn das nackte Leben zur fundamentalen Referenz
geworden ist, verlieren die traditionellen politischen Unterscheidungen
(wie jene zwischen rechts und links, Liberalismus und Totalitarismus,
privat und öffentlich) ihre Klarheit und Intelligibilität und treten in
eine Zone der Unbestimmtheit. Auch das plötzliche Abdriften der Klassen
des Exkommunismus in den extremsten Rassismus (wie in Serbien mit den
Programmen der "ethnischen Säuberung") und die Wiedergeburt des
Faschismus in Europa haben hier ihre Wurzeln. Giorgio Agamben, Homo sacer, Die souveräne Macht und das nackte Leben, S. 130
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